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Jun
Sylvia Rotter und das Wiener Kindertheater: Ein Kinderspiel
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Und jetzt also „Wie es euch gefällt“. Wrestling ist neuerdings als Aufwärmübung bei den Buben ziemlich angesagt, die Mädchen toben sich lieber beim Versteinern aus, dann Artikulations- und Atemübungen, Bewegungstraining. Konzentration. Die Probe läuft. Und zwar offenbar bestens, obwohl sich so ein Shakespeare-Text mitunter ganz schön stolprig buchstabieren lässt, zum Beispiel, wenn man erst sechs und das Alphabet noch weitgehend unbekanntes Terrain ist. Wiener Kindertheater: Übungsstätte für soziale Intelligenz, Spielen, Improvisieren, Text erarbeiten und interpretieren, Lehren und Lernen fürs Leben: etwa, dass Miteinnander wesentlich zielführender als Gegeneinander ist.
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Sylvia Rotter, Erfinderin und Leiterin des Wiener Kindertheaters ist humorvolle Seele einer im wahrsten Sinn des Wortes „kindlichen“ Komödianten-Truppe. Seit 14 Jahren schafft sie das logistische und organisatorische Glanz-Stück., aus einem Knäuel von 120 schauspielwütigen Kindern bunte Spitzenensembles zu stricken.
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Geprobt wird von Jänner bis Juni, in den letzten zwei Schulwochen vor den Sommerferien treten die Kinder für Wiener Schulklassen im „Theaterbrett“ auf und im Herbst schließlich zwei Wochen lang im ausverkauften „Studio Molière“. Nach einem komplizierten Masterplan verteilt Rotter die Kinder auf Rollen und Vorführungen und in jedesmal neuer, erfrischend wechselhafter Besetzung spielen sie Klassiker der Weltliteratur, Nestroy, Goldoni, Molière und immer wieder Shakespeare: toll die einen, tollpatschig die anderen, großartig alle.
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Kinder ab sechs befassen sich mit komplizierten Texten, lernen spielerisch, stressige Situationen zu bewältigen. Experimentell? Avantgarde? Talenteschmiede für den Theaternachwuchs? Nein, das Kindertheater ist nicht die Vorfeldorganisation fürs Reinhardseminar, aber “Theaterspielen fördert die Kreativität; die Kinder kriegen ein Gefühl für die Schönheit der Sprache. Und sie lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen“.
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Theaterspielen als wirkungsvolle Medizin gegen Bildungsmisere, Pisa-Katastrophen und Leseschwächen: gemeinsam mit dem Wiener Kinderpsychiater Max Friedrich und Brigitte Sindelar von der Sigmund Freud-Universität hat Sylvia Rotter zusätzlich zum Kindertheater eine Bildungsinitiative gestartet. An zwei Wiener Volksschulen – die eine im Speckgürtel von Wien, die andere im zweiten Bezirk mit multikulturellem Querschnitt durch alle Gesellschaftsschichten - wird von Prof. Friedrich wissenschaftlich evauliert, ob und wie sehr Rotters Theaterworkshops à die emotionale, soziale, sprachliche und motorische Entwicklung der Kinder fördern – und zwar unabhängig von Herkunft und Bildung der Eltern. „Es ist erstaunlich, wie schnell und begierig die Kinder alles aufnehmen, wie begeistert sie sind. Unser Unterricht hat ihnen völlig neue Welten erschlossen“, schwärmt sie. Nach zirka 15 Einheiten jedenfalls sind 80 Prozent der Kinder imstande, eine freie Rede halten. Besonders glücklich ist Rotter über einen kleinen Türken. Dank der Workshops willl der Sohn eines Kebabstandlers die deutsche Sprache perfekt erlernen und später Rechtsanwalt werden.
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Die Feinde der talentierten Kinder sitzen überall, die Freunde muss man suchen. Das Wissenschaftsministerium macht immerhin 9000 Euro für diese Bildungsinitiative locker, vom Bildungsministerium gibt es – bisher zumindest - nicht einmal diesen Tropfen auf den heißen Stein.
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„Beispielgebend für andere, Wegbereiter für künftige Generationen“: mit dieser Begründung wurde Sylvia Rotter – übrigens als erste Österreicherin - vor ein paar Jahren in Athen mit dem „Artemis Award“ ausgezeichnet. Vergeben wird diese internationale Würdigung vom „Euro-American Women’s Council“ für herausragende und zukunftsweisende Leistungen auf den Gebieten Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Ihr Bild zierte eine Briefmarke in Athen, die griechische Parlamentspräsidentin war fasziniert vom Wiener Kindertheater, der öffentlich-rechtliche US-Channel 13 ventilierte gemeinsame Projekte, in Rumänien wird neuerdings nach der Methode Rotter unterrichtet. Fein. Denn daheim schrammt das Wiener Kindertheater stets an der Grenze zum Bankrott. Mit 25.000 Euro wird es von der Stadt Wien subventioniert, 15.000 Euro gibt es heuer vom Bund, Kursgebühren bringen weitere 30.000 Euro; fehlt noch immer mehr als die Häflte, die nötig sind, um 120 Kinder sowohl organisatorisch als künstlerisch professionell zu betreuen.
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Weil nur das Beste die Kinder gut genug ist, engagiert Rotter internationale Profis für Bühnenbild, Kostüme, Licht und Choreographie: Harold Pinters Lieblingsregisseurin Di Trevis beispielsweise; Shona Morris, die unter anderem mit Roman Polanski gearbeitet hat; oder den rumänischen Performance-Künstler Paul Cimpoieru. Ein im wahrsten Sinn des Wortes teures Kinderprogramm, gäbe es nicht Uniqa und die Erste Bank als private Sponsoren, so gäbe es auch das Wiener Kindertheater längst nicht mehr.
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„Ich hatte zu Kindern keine Beziehung, bis zu dem Augenblick, als ich das erste Mal meine kleinen Neffen im Arm hielt“, erklärt die kinderlose Theaterprinzipalin ihre große Liebe zu den kleinen Leuten. Nach ersten Workshops für die Nachwüchse ihrer Freunde fasste sie 1994 den Entschluss, Kindertheater für viele Kinder zu machen. Und wenn sich diese Frau etwas in den Kopf setzt, dann sind Hindernisse ausschließlich dazu da, um überwunden zu werden. Sie schaffte die Aufnahmsprüfung an die weltberühmte Royal Academy of Dramatic Art in London: „Einerseits war ich zwar gehandicapt als Ausländerin, aber ich habe dafür mit den tollsten Leuten gearbeitet“ erinnert sie sich. Sie wohnte zur Untermiete bei der Filmschauspielerin Maria Britneva. Die gebürtige Russin verschaffte der Österreicherin Zutritt zur Creme der internationalen Kunstwelt: Tennessee Williams war häufiger Gast, Franco Zefirelli schaute zum Frühstück vorbei und für die Kunstsammlerin und Mäzenin Peggy Guggenheim kochte das steirische Mädel Topfenknödeln: „Die sind mir allerdings vor Aufregung völlig misslungen.“
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Ehe sie in den 80er Jahren auf deutschen Provinzbühnen spielte, mit einem Brecht-Stück durch England tourte, in Peter Greenaways „Kontrakt des Zeichners“ spielte und 1986 die „Anglo-Alpine Company“ gründete, eine Edelmischung aus englischen und österreichischen Profis, ehe sie zwischen Kontinent und Insel pendelte, im Handgepäck Schiller, Horvath und Ferdinand Bruckner für die Engländer, Shakespeare für die Österreicher und ehe sie das Wiener Kindertheater gründete, musste die diplomierte Mimin allerdings erst einmal Fußböden fremder Leute schrubben: „Da lernt man, sein Geld einzuteilen. Damals bin ich auf die drei lebenswichtigen K’s gekommen: Koks, Kartoffeln, Klopapier.“ Manchmal ging sich auch ein viertes K aus: Kino. Ein gutes Training, denn heute kann sie mit einem Minimalbudget von 150.000 Euro ihr liebstes K über Wasser halten: das Wiener Kindertheater.