Robert Menasse: “Ich bin kein 68er, sondern ein 89er” | Andrea Schurian Schurian,Andrea+Schurian,

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20
Aug

Robert Menasse: “Ich bin kein 68er, sondern ein 89er”

In seinem Erzählband “Ich kann jeder sagen” zeichnet Robert Menasse das Panorama seiner Generation

A.Sch: Wie viel von Ihrem Ich haben Sie denn den 13 Ich-Erzählern mitgegeben?

Menasse: Viel. Jeder von ihnen gehört meiner Generation an. Das Buch ist mein Versuch, mich in meiner Zeitgenossenschaft zu hinterfragen. Es ist ja ein eigentümlicher Sachverhalt, dass wir im letzten halben Jahrhundert einerseits das Glück eines relativ friedvollen Lebens haben konnten, während gleichzeitig große Geschichte passiert ist, die an uns vorbeischrammte. Und doch gibt es eine Schnittstelle von Weltgeschichte und persönlicher Biografie.

A.Sch: Welche Schlüsse ziehen wir aus diesen Schnittstellen für die Zukunft?

Menasse: Ich weiß nicht, ob man Schlüsse für die Zukunft daraus ziehen kann. Aber wir ziehen Schlüsse für die Vergangenheit. Wichtig im Hinblick auf die Geschichte ist nicht die authentisch vermittelte Zeitzeugenschaft, sondern die Deutung. Was war für das eigene Leben prägend? Erstaunlich ist: Man adoptiert Dinge, für die man eigentlich zu jung war.

A.Sch: Wie die Ermordung Kennedys, deren unterschiedliche Wahrnehmung Sie in der Erzählung Die amerikanische Brille thematisieren?

Menasse: Ja, da war ich ein Kind und kann mich nicht erinnern - und dann doch wieder. Jeder, der schon auf der Welt war, als die Schüsse von Dallas fielen, sagt, wie schrecklich der Kennedy-Mord war; dass er Hoffnungen zerstört, die Welt verändert hat. Und blendet aus, dass Kennedy den Vietnamkrieg begonnen und die Welt mit der Schweinebucht an den Rand des Atomkriegs gebracht hat. Oder, anderes Beispiel: Wir feiern gerade Woodstock-Jubiläum. Es waren ja in Wirklichkeit schon viele Menschen dort, aber sie vermehren sich 40 Jahre danach ins Unermessliche.

A.Sch: Am Heldenplatz hingegen wollte niemand dabei gewesen sein.

Menasse: Irgendwann entscheidet sich, ob die Zeugenschaft eines historischen Ereignisses ehrenvoll oder ehrenrührig ist.

A.Sch: Ich kann jeder sagen ist ein Buch der Erinnerungen: Wo war ich, als dies oder jenes passiert ist?

Menasse: Während ich das Buch geschrieben habe, habe ich mir oft vorgestellt, ich würde Freunde einladen - sozusagen Decamerone live - und jeder müsste die Geschichte erzählen, die ihm für sein Leben am wichtigsten erscheint. So habe ich auch mein Buch aufgebaut: als ein Panorama einer Generation. Jeder Ich-Erzähler erinnert sich daran, was ihn geprägt hat.

A.Sch: Was waren die prägendsten Ereignisse in Ihrem Leben?

Menasse: 1973 der Putsch in Chile. Dass ein demokratisch gewählter Präsident eines Staates einfach weggeputscht werden und ein faschistischer Diktator eingesetzt werden kann - ausgerechnet von jenen, denen ich dankbar sein sollte, weil sie uns die Demokratie gebracht haben, das hat, pathetisch gesagt, mein Leben verändert. Ich war schlagartig politisiert, ich bin in marxistische Arbeitskreise gegangen. Und natürlich der Mauerfall. Wir erlebten Weltgeschichte. Und es ging so schnell: Unser Bundeskanzler Vranitzky fuhr noch zu Egon Krenz, und als er zurückkam, gab es bereits keine DDR mehr. Wie Hegel gesagt hat: “Wenn eine Idee die Massen ergreift, hält die Wirklichkeit nicht stand.” Ich bin kein zu spät gekommener 68er, ich bin ein 89er.

A.Sch: Und was ist mit den 70er-Jahren? Linke WGs, RAF, Palmers-Entführung, Implikationen der eigenen Biografie?

Menasse: Das waren blaue Jahre. Wer heute Heldenlegenden aus dieser Zeit erzählt, der lügt. Der Zeitgeist war noch links, aber die Studentenbewegung war erschöpft, das Klima hat sich ungemein radikalisiert. Ich habe die Palmers-Entführer persönlich gekannt: Rückblickend ist es schon eigentümlich, wie knapp es sein kann, ob man sich heillos verstrickt oder mit einer Lehre davonkommt.

A.Sch: Der Geschichte- und Geschichtenbogen endet in der Gegenwart der Facebook-Generation. Gehören Sie dazu?

Menasse: Als ich studiert habe, gab es kein Handy oder Internet. Wir haben uns vernetzt, indem wir in bestimmte Kaffeehäuser wie das Dobner gegangen sind: Da waren alle Studenten, Linke, Künstler - man wusste, dass man Gleichgesinnte trifft. Und man wusste, das würde im Sacher nicht der Fall sein. Der Unterschied zu damals ist: Wenn ich aus schierer Neugier von einem ins andere Kaffeehaus gehen will, muss ich nur ein Portal aufmachen und brauche kein Taxi.

A.Sch: Keine Angst, ein gläserner Mensch zu werden?

Menasse: Bei Facebook bestimme ich, was erscheint. Aber ich kann nicht bestimmen, was auf einer Überwachungskamera erscheint. Die Methoden, einen Menschen heute sozial zu rastern, sind ja völlig undemokratisch und schwer zu kontrollieren. Darauf hat man keinen Einfluss - wohl aber habe ich einen Einfluss darauf, mit wem ich mich verlinke und was ich in einem Kommunikationsmedium wie Facebook von mir preisgebe.

Robert Menasse, geboren 1954 in Wien, vielfach ausgezeichnet. Wichtigste Werke: “Trilogie der Entgeisterung” (Sinnliche Gewißheit; Selige Zeiten, brüchige Welt; Schubumkehr), “Vertreibung aus der Hölle” sowie “Don Juan de la Mancha”. Seine Faust-Interpretation “Dr. Hoechst” wurde im April uraufgeführt

 



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