13
Aug
Keine Sorge, Frau Schurian!
Von Paul Simon und Günther Laufer (Spectrum) 13.08.2005
Über den Zustand unserer Kinderherzchirurgie: Herzensangelegenheiten, 2. Teil - zwei Chirurgen antworten auf Andrea Schurians Attacke im “Spectrum”.
Es ist Sonntagmorgen, man greift zu seiner Zeitung. Man liebt diese Zeit, auch ein Herzchirurg braucht Zeit zum Entspannen. Leider lässt die Überschrift auf der Titelseite des “Spectrums” nichts Gutes ahnen: “Herzensangelegenheiten, eine Attacke” von Andrea Schurian. Man liest zwei Seiten “Attacke” im “Spectrum”, weiß jetzt, dass Frau Doktor Schurian ein herzkrankes Kind hat und erfährt auch, dass sie im AKH in Wien so beraten wurde, dass sie höchst unzufrieden war. Aber sprechen wir von derselben Kinderherzchirurgie im AKH Wien? Wir sind Kinderherzchirurgen. In Wien beziehungsweise in Innsbruck. Wir können uns nicht erinnern, dass wir Kinder warten lassen, bis es ihnen so richtig schlecht geht. Das ärztliche Konzept heißt: Operation zum richtigen Zeitpunkt - und das ist meist der früheste Zeitpunkt. Frühkorrektur, das Zauberwort taucht auf. International und selbstverständlich auch bei uns wird aufgrund der deutlich gestiegenen Sicherheit der Operationen heute recht bald nach Diagnostizierung des Herzfehlers operiert, also meist innerhalb des ersten Lebensjahres und wenn notwendig auch im Neugeborenenalter. Schade, dass Andrea Schurian uns nie kontaktiert hat.
Und übrigens: Auch die “engagierten Buchautoren”, auf die sie sich beruft, waren nie bei uns im Operationssaal oder haben mit uns über “schreckliche Zustände” gesprochen. Dann hätten wir ihnen ja unsere Daten in Rohform, also “ungeschönt” zeigen können - denn Analysen sind nur so gut, wie es die eingetragenen Daten erlauben. Wir sind betroffen. Zu welchem Zweck werden die Eltern unserer kleinen Patienten verunsichert? (Außer wenn das Ziel sein sollte, für das Kinderherzzentrum in Linz die Werbetrommel zu rühren. Aber muss das medial auf dem Rücken unserer Patienten passieren?) Eltern, die mit ihren Ängsten zu uns kommen, uns ihr Kind buchstäblich in die Hände legen.
Wir dürfen an dieser Stelle als Vertreter des universitären Kompetenznetzes zur Behandlung angeborener Herzerkrankungen (Wien, Graz, Innsbruck) Stellung nehmen. Wir halten denselben Qualitätsstandard wie nicht nur das Zentrum in Linz, sondern auch international renommierte Herzzentren. Wir entwickeln unsere Techniken weiter, besuchen andere führende Zentren, wir laden Experten ein, um neue Methoden zu etablieren. Wir machen ebenso wenig die Augen zu vor Fehlern und Komplikationen wie die Kollegen in Linz. Medizin ist nicht schwarz oder weiß, sondern hat viele Schattierungen. Wir nutzen alle unsere Erfahrungen, die guten und ganz besonders die schlechten, für die Zukunft. Muss Frühkorrektur immer sein? Warum soll man ein relativ unbedeutendes Loch im Herzen, das dem Kind keinerlei Beschwerden macht, gleich oder bald nach der Geburt operativ verschließen, wenn dieses Loch sich selbst verschließen oder aber mit drei Jahren mittels Herzkatheterschirmchen ohne eine große Operation geheilt werden kann?
Ja, wir unterscheiden uns gelegentlich in der Entscheidungsfindung von den Kollegen in Linz! Aber nicht aufgrund mangelnden Engagements oder Mutes oder schlechter Ergebnisse, sondern weil wir - vor dem Hintergrund einer Universität - zum Teil auf andere Ressourcen zurückgreifen können und weil wir es immer abgelehnt haben, der Zentrumsstatistik wegen Operationen durchzuführen. Zugegeben, in unserer sogenannten schnelllebigen Zeit ist es natürlich angenehm, ein “Problem” rasch beseitigt zu haben. Aber aus unserer Sicht bleibt es eine Operation - und also wesentlich traumatischer als ein minimal invasiver Kathetereingriff. Wir geben den Kindern, wenn keine Beschwerden auftreten, die Chance, ohne Operation gesund zu werden. Wir können es nicht verstehen, wenn Kinder von manchen Kollegen noch immer zur “Frühkorrektur” nach Linz geschickt werden und dort auch tatsächlich operiert werden. Nicht früher ist besser, besser ist besser! Die Medizinuniversitäten in Graz, Innsbruck und Wien haben kürzlich ihre Zusammenarbeit im österreichischen universitären Kompetenznetz für angeborene Herzerkrankungen vorgestellt. Eine österreichische Scheinlösung, vermutet Andrea Schurian, da doch ein angesehener Herzchirurg gemeint hat: Es genügen zwei statt vier Zentren für das kleine Land. Allein mit großen Zentren lässt sich aber keine Qualität machen, wie die erste vergleichende europäische Statistik zeigt. Wir glauben, dass wir mit dieser Vernetzung für ein Land mit jährlich 600 bis 700 herzkranken Neugeborenen den richtigen Mittelweg gehen.
Die Ergebnisse der Jahre 2003 und 2004 bilden die Grundlage für die zukünftige Zusammenarbeit und zeigen uns im europäischen Spitzenfeld. 2003 und 2004 wurden insgesamt 382 beziehungsweise 387 Operationen durchgeführt. Mehr als ein Drittel der Kinder war unter einem Jahr alt. Die Zahl der Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern betrug 25 respektive 27 Prozent. Die Operationssterblichkeit betrug in Wien 2,25 beziehungsweise 2,48 Prozent und für das gesamte Kompetenznetz 1,71 beziehungsweise 2,32 Prozent. Im Vergleich lag die Sterblichkeit in Linz bei 2,64 und 3,79 Prozent. Alle Zentren schnitten besser als der europäische Durchschnitt ab, der bei 4,8 Prozent lag! Die europäischen Daten lagen erstmals 2004 für 13.508 Patienten vor, die in 26 Zentren zwischen 1999 und 2003 operiert wurden. Seit vier Jahren haben wir bei der arteriellen Switch-Operation - einem technisch schwierigen Eingriff, der bei mehr als 20 Neugeborenen durchgeführt wurde - kein Kind verloren. Im Rahmen des Kompetenznetzes führen wir diese Operation jetzt auch in Innsbruck durch - im letzten Halbjahr viermal und erfolgreich.
Jede weitere Schlussfolgerung zum schlechten Zustand der Herzchirurgie in Österreich ist bei dieser Ausgangssituation an den Haaren herbeigezogen und gleicht einer Hetzkampagne. Selbst ernannte Spezialisten - keiner von ihnen ist Kinderkardiologe oder Kinderherzchirurg - behaupten, die höhere Sterblichkeit in Linz hänge mit der Tatsache zusammen, dass komplexere Operationen durchgeführt werden. Vergessen wird, dass komplizierte Operationen im 21. Jahrhundert nicht unbedingt höhere Sterblichkeit bedeuten. Sie zitieren für das hypoplastische Linksherz, das derzeit nur in Linz operiert wird, eine Sterblichkeit von 30 bis 40 Prozent. Heute liegt diese aber vielerorts unter zehn Prozent! Hier leben die Kritiker in der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts. Andererseits werden Herztransplantationen bei Kindern und der Einsatz von Kunstherzen nur an den Universitäten durchgeführt - Eingriffe, die auch international mit erhöhtem Risiko behaftet sind. Wie man die Dinge auch dreht und wendet, der Versuch emotional motivierter simpler Bewertungen muss scheitern.
Eine seriöse Bewertung lässt sich nur mit international anerkannten Scoring-Systemen finden. Die objektive Beurteilung von medizinischen Leistungen und besonders von Operationsergebnissen ist ein hochaktuelles und wichtiges Thema. Theoretisch ermöglicht sie Vergleiche zwischen Ärzten und Spitälern. Sie soll als Orientierungshilfe für Patienten dienen, sagt dem Spitalserhalter, ob gute Arbeit geleistet wurde, und der Politik, ob die zur Verfügung gestellten Mittel optimal eingesetzt wurden. Ziel der Zusammenarbeit im Kompetenznetz ist es, Systeme zur exakten Qualitätserfassung zu etablieren und ein System der zentralen Datenerfassung zu erstellen, das die Komplexität der Erkrankung und der Operation berücksichtigt. Denn anders als bei der industriellen Fertigung von Motoren, wo ein Stück dem anderen gleicht, ist bei Menschen unterschiedlicher genetischer Ausstattung selbst bei definierten Erkrankungen die quantitative, aber auch qualitative Ausprägung unterschiedlich. Besonders schwierig ist die Situation in der Kinderherzchirurgie, wo 200 Diagnosen etwa 150 Operationen gegenüberstehen.
Erst 1999 wurde in Zusammenarbeit der europäischen und amerikanischen Herzchirurgengesellschaft eine standardisierte internationale Nomenklatur für Diagnosen und Operationen etabliert. Erst seit kurzem also ist es möglich, einheitliche Datensätze zu generieren. Dennoch ist die Operationssterblichkeit statistisch nicht einfach zu bewerten. Dazu muss der Grad der Erkrankung, der Zustand des Kindes, die Gesamtkomplexität der Operation, die Notwendigkeit mehrerer gleichzeitiger Eingriffe bedacht werden. Wir befinden uns erst am Anfang.
“Wenn keine ausreichende wissenschaftliche Antwort auf ein Problem existiert, dann hat die Meinung der Mehrheit den Wert einer Wahrheit”, riet Aristoteles. Diesem Grundsatz folgend, erstellten renommierte Kinderherzchirurgen eine Einschätzung der Komplexität der verschiedenen Diagnosen und Operationen. Daraus hat sich der europaweit vorerst als Arbeitsgrundlage akzeptierte Aristoteles-Score entwickelt, der es erstmals ermöglichen soll, nicht nur Sterblichkeit, sondern auch die “operative Performance” - also Leistungsqualität - zu erheben.
Trotz hervorragender Ergebnisse an den drei Standorten Wien, Graz, Innsbruck ergeben sich durch die Kooperation deutliche Vorteile. Behandlung und technologischer Fortschritt verlangen eine zunehmende Spezialisierung. Die Zahl der Patienten mit angeborenen Herzerkrankungen, die das Erwachsenenalter erreicht haben (derzeit etwa 20.000 in Österreich) und vielfach spezielle Langzeitprobleme bereiten, steigt.
Wir wollen auch in Zukunft die Versorgung von Patienten mit angeborenen Herzerkrankungen internationalen Qualitätsstandards entsprechend an allen drei österreichischen Medizinuniversitäten und damit regional und wohnortnah sichern. Damit können lange, für die kleinen Patienten oft lebensgefährliche Transportwege zu entfernten Zentren vermieden werden. Es müssen nicht die Patienten zwischen den Zentren transferiert werden, nein, die Experten kommen direkt ins jeweilige Zentrum. Dies garantiert auch eine wohnortnahe Nachsorge, die bei diesen Patienten oft lebenslänglich erforderlich ist. Verzögerungen in Diagnose und Behandlung, wie sie bei der Nachsorge in weiter entfernten Zentren zu erwarten wären, können verhindert werden.
Und schließlich: Das Kompetenznetz hat auch auf europäischer Ebene Modellcharakter, da die vielfach als beispielhaft zitierten amerikanischen Verhältnisse nicht unmittelbar übertragbar sind. Institutionelle Kooperationen auf nationaler und europäischer Ebene könnten hier eine erfolgreiche Alternative darstellen.
Es ist Sonntagmorgen, man greift zu seiner Zeitung. Auch wir, Andrea Schurian, sorgen dafür, dass unsere Patienten optimal versorgt werden.